Friedrich Maximilian Hessemer : Hessemers Arabeskentheorie

Hessemers Arabeskentheorie

Die 1847 entstandene Verserzählung geht in ihren Ursprüngen auf Hessemers Gießener Zeit zurück, in der seine Persönlichkeitsentwicklung sehr stark durch die Vorstellungswelt der Gießener Schwarzen geprägt wurde. Das sehnsuchtsvolle Aufscheinenlassen der altislamischen Märchenwelt, für das die vorliegende Verserzählung ebenso paradigmatisch und charakteristisch ist wie sein anderer großer Versroman Ring und Pfeil aus dem Jahr 1859, spricht nämlich im Grunde nichts anderes aus, als die Sehnsucht der 1814er Bewegung nach Verwobenheit mit der Zeit und der Nation.
Man kann diese Sehnsucht in den Vers-Romanen Hessemers, aber auch in seinem Buch über Arabische und Alt-Italienische Bauverzierungen aus dem Jahr 1842 nachklingen hören. Insbesondere in dem programmatischen Vorwort spricht sich Hessemers Bewunderung der arabischen Kultur aus, der es seiner Meinung nach gelungen ist, die breitgestreute soziale und kulturelle Divergenz der arabischen Welt mit einer identitätstiftenden Einheit zu überziehen. Die Faszination, die für Hessemer von einer solchen Kulturleistung ausging, erklärt sich aus der nicht eingelösten Sehnsucht der deutschen Befreiungs- und Nationalbewegung nach einer vergleichbaren identitätstiftenden Kunst. War doch die Zeit um 1815, in der die nationale Befreiungsbewegung in Deutschland Boden faßte und die radikale Studentengruppe der „Gießener Schwarzen“ von sich reden machte, geprägt von politischen und konfessionellen Gegensätzen, insbesondere durch den Dualismus zwischen Preußen und Österreich und dem Zwist zwischen Luthertum und Katholizismus. Anders als die Hauptströmung der politischen Romantik, und insbesondere im Gegensatz zu der patriotischen Lyrik seines Cousins Ludwig Adolf Follen, versucht Hessemer den Nationalcharakter der Deutschen nicht durch den Rückgriff auf ein idealisiertes Mittelalter zu begründen. Seine anhaltende Vorliebe für die spielerische Beschwingtheit der Schreibweise Jean Pauls verband sich mit den ästhetischen Erlebnissen und Erfahrungen seiner Kunst- und Studienreise in das islamische Ägypten, mit dem Ergebnis eines ganz eigenständigen ästhetischen Programms, in dessen Zentrum eine ausgeprägte Arabeskentheorie steht.
Die Arabeske als Kunstform erscheint Hessemer als das geeignete Mittel für die erstrebte Zusammenführung des durch die Verfahrenheit der Geschichte heterogenen Selbstverständnisses der Deutschen. Für Hessemer steht außer Frage, daß die zeitgenössische Kunst und Literatur nur durch eine vorbehaltlose Rückorientierung an den Ornament- und Dekorationsformen der arabischen Welt jene Stilsicherheit zurückgewinnen kann, die die islamische Kunst auszeichnet und die der abendländischen Welt verlorengegangen ist. So propagiert Hessemer das Arabeskenornament als Vorbild und Ausgangspunkt für eine neu zu begründende Kunstepoche, wobei das Verhältnis von Schrift und Ornament den Knotenpunkt der ästhetischen Überlegungen Hessemers bildet:

„Bei den wunderlichen, dem Araber so eigenthümlichen Vorstellungen sinnlicher und übersinnlicher Art hebt sich besonders auch die Sonderbarkeit hervor, dass ihnen beinahe nichts seinen Sinn und Gehalt für sich hat, dem nicht zugleich, direct oder indirect symbolisirend, irgendeine geheimnissreiche Bedeutung gegeben wäre; so sind ihnen Schriftzüge und Inschriften schon durch ihre Gegenwart wirksam, wenn auch dem Verstande nicht immer begreiflich, doch sonst anregend als Gegenstand der Weihe, oder abwehrend als Schutzmittel gegen feindliche Ränke und Unglück; daher lieben sie geschriebene Amulete, tätowirte Verzierungen mit Schrift untermischt auf Armen und anderen Theilen des Körpers, Ringsteine mit wunderlichen Verschlingungen und mehr dergleichen, und daher endlich auch die grosse Menge Inschriften in und an ihren Gebäuden, die man selten oder fast nie, wie sie zusammen gehören, mit Einem Blick übersieht, und die eigentlich nur als Gegenstände der Verzierung zu betrachten sind bei einem Volke, das der Masse nach weder lesen noch schreiben kann; auch sind wirklich Inschriften weniger gefertigt, um gelesen zu werden, als vielmehr nur, um da zu sein. Wie Gebete öfters hergesagt, etwa wie magnetische Streichungen, ihre Wirkung verstärken sollen, so aucch Inschriften durch öftere gleichmässige Wiederholung; wie die grössere Pünktlichkeit des Gebetes, die sorgfältigeren Abwaschungen vor demselben und dergleichen die Weihung vermehren sollen, so auch bei den Inschriften die genauere Ausführung und das bessere Material; und so sind denn in derartigen Rücksichten die Araber unermüdlich, ihre Inschriften zu wiederholen, zu vervielfältigen, zu schmücken, zu verzieren, und in Gold und den härtesten Steinen auszuführen. Dieses alles giebt uns denn endlich den Uebergang zu dem calligraphischen Charakter ihrer Ornamente; die Schrift wird verziert, und giebt dann auch der Verzierung einen schriftzugartigen Ausdruck, wie sie denn auch ausserdem noch andere Aehnlichkeit mit Schrift und Sprache hat; der Ueberladung mit Inschriften folgt eine Ueberladung mit Verzierungen, beidde rufen sich zugleich hervor, ersetzen und ergänzen sich wechselweise. Unwillkührlich werden wir hierbei an die Hieroglyphen der alten Aegypter erinnert, mit welchen es in Bezug auf ihre architektonischen Zierden die gleiche Bewandniss hat, so dass sich hier unter ganz veränderten äusseren Verhältnissen eine Eigenthümlichkeit früherer Zeiten reproducirt.“
(Aus: Friedrich Maximilian Hessemer. Arabische und Alt-Italienische Bauverzierungen, 1842).